Museumsinsel

 

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Vladimir Sitnikov: Zielort Berlin, Bunker-D, Kiel, 16.2.2017

Eröffnungsrede: Peter Thurmann

 

 

Invasion im Herzen Berlins: Seltsame Objekte, kolossale oder filigrane skulpturale Gebilde, bevölkern topografische und Fassadenansichten der Museumsinsel und ihrer Umgebung. Sie besetzen Plätze, Straßen und Gewässer. Manche von ihnen sind kaum exakt zu verorten; Stehen sie auf dem Boden oder schweben sie in der Luft? Wie nahe oder wie fern sind sie uns, wie ist ihr wirkliches Größenverhältnis? Und wie ist ihre materielle Beschaffenheit; sind das etwa schwere Stahlkörper, ist das Holz oder eine Art Leichtbauweise? Diese Ambivalenz von schwer–leicht, groß–klein oder nah–fern lässt uns schwanken zwischen Gefühlen von bedrohlich bis poetisch.

    Vladimir Sitnikov kam 1989, gerade noch zu DDR-Zeiten, mit einer Delegation russischer Buchkünstler nach Ost-Berlin. Seitdem ist der Bezirk der Museumsinsel mit dem benachbarten Zeughaus und der Neuen Wache ein wichtiger Anziehungs- und Bezugspunkt für ihn – als kulturelles Bildungsereignis ebenso wie als historisches und politisches Monstrum einer Herrschaftsarchitektur aus Barock und Klassizismus bis zum Neobarock und Neoklassizismus. Das Verhältnis von imperialer und kolonialer Macht und Gewalt zu den daraus resultierenden oder darauf reagierenden künstlerischen Ausdrucksformen beschäftigt Vladimir Sitnikov.

    Im Innenhof des Waffenarsenals und Kriegsmuseums, des heutigen Deutschen Historischen Museums im Zeughaus, befinden sich als Schlusssteine der Rundbogenfenster im Erdgeschoss des Innenhofs 22 „Köpfe sterbender Krieger“, die Andreas Schlüter am Ende des 17. Jahrhunderts geschaffen hat. Sitnikov hat sie mit verschiedenen Farbkreiden auf Papierbahnen umgezeichnet. Sie hängen hier frei in den Räumen, aus dem architektonischen Zusammenhang gelöst, uns ganz nahegerückt und ausgeliefert. Die Augen dieser menschlichen „Trophäen“ im Angesicht des Todes sind geschlossen. Schlüter arbeitet in der Beschränkung Physiognomien und eine Mimik des Schmerzes heraus. Sitnikov intensiviert diese Eindringlichkeit durch Nahsicht, Übersteigerung und farbliche Nuancierungen, veranschaulicht die Ästhetisierung menschlicher Entwürdigung.

    Andreas Schlüter, durch eine architektonische Fehlplanung in Preußen in Ungnade gefallen, verbrachte sein letztes Lebensjahr in Russland; Sitnikov umgekehrt kam aus der osteuropäischen Metropole Moskau in die mitteleuropäische Metropole Berlin, und er vertauschte die Ostsee-Hafenstadt Sankt Petersburg mit Kiel. Sankt Petersburg wurde den Sümpfen entrungen, Berlin auf Sand gebaut. Beide Städte stiegen durch Willensstärke und Machtausübung auf.

Vladimir Sitnikov zeigt neben den großformatigen Zeichnungen von 2016 und 2017 Modelle, die er 2005 als Bausatz einer Ausgabe des Gedichts Die Zwölf von Aleksandr Blok beigefügt hat. Dieses spätsymbolistische Poem in 12 Kapiteln ist in Sankt Petersburg in Reaktion auf die Oktoberrevolution entstanden. Die zwölf Personen sind vieldeutig und zeitübergreifend: Sie sind Revolutionspatrouille, Räuberbande russischer Volkssagen, Apostel um einen Christus als Fahnenträger zugleich, durchsetzt mit Anspielungen auf Goethes Faust. Sitnikov stellt seine postmodernen konstruktiven Gebilde dem festen, imperialen Berliner Baukomplex als beweglichen Störfaktor entgegen, ganz im Sinne suprematistischer Gestaltungen etwa von Kasimir Malewitsch, der räumlichen Proun-Bilder von El Lissitzky oder Werken Wladimir Tatlins, von den Kontra-Reliefs bis zum Luft-Fahrrad Letatlin. Allen gemeinsam ist die Auflehnung gegen Konventionen, utopisches Gedankengut und Schwebezustände. Wenn wir am Bodemuseum, in der Luft und im Wasser umgeben von Sitnikovs Objekten, überfangen von einem roten Halbkreis wie ein Sonnenball, entlangblicken auf den sich querlegenden Werbeballon der Zeitung Die Welt, dann mutet das an wie eine ironische Brechung: Die Oper Sieg über die Sonne, von Malewitsch mit Schwarzem Kreis und Schwarzem Quadrat ausgestattet, scheint nun umgedeutet zu einem „Sieg über die Welt“.

    Bis ins Innere des Pergamonmuseums drängen Sitnikovs Figuren vor, versammeln sich subversiv vor dem berühmten Altar antiker Schlachtenszenen. Und vor der Neuen Wache steht ein monumentales Gebilde, das daran denken lässt, dass sich auf Wunsch eines Bundeskanzlers im Innern die überdimensionierte, aufgeblasene Pietà von Käthe Kollwitz befindet.

    „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ oder, anders übersetzt: „Der Traum der Vernunft gebiert Monstren“, so kennzeichnete Goya die Kehrseite der Aufklärung. Und wenn wir mit Sitnikov auf die Fassade des Zeughauses durch eine Art Gitternetz sehen, dann verwandelt es sich von einer Vedute, wie sie Piranesi von Rom hergestellt hat, in einen seiner düsteren Carceri. Das Machtzentrum gerät sozusagen selbst in Gefangenschaft.

    Künstler arbeiten nie im luftleeren Raum. Sie bewegen sich immer in gesellschaftlichen Zusammenhängen, ob sie nun Herrscher oder andere Auftraggeber bedienen oder Eigenes dagegensetzen, ob sie Revolutionen anhängen oder gegen sie arbeiten, ja selbst wenn sie sich scheinbar abseits halten. Deutschland hat, ähnlich wie Russland, viel zu bieten: Eroberungskriege, Freiheitskriege, Weltkriege, gescheiterte und friedliche Revolutionen und gerade eine Zeit der – wenn auch angespannten – Ruhe. Doch angesichts der vielfältigen Krisenherde in der Welt stellt sich die Frage nach der Rolle Deutschlands ständig neu. In dieses Spannungsfeld stellt Sitnikov seine Intervention auf der Museumsinsel, um auf mögliche historische und aktuelle Bruchstellen hinzuweisen.

    Auch Künstler können Macht ausüben. Mit einigen Arbeiten von 1995 bezieht sich Sitnikov auf die „Wohnmaschinen“ des Architekten Le Corbusier. Einerseits strebt dieser eine Harmonisierung der Wohnverhältnisse unter Verwendung des Goldenen Schnitts und menschlicher Proportionen an, andererseits ist er beteiligt an der Entstehung des Brutalismus bis hin zu einer diktatorisch verordneten Wohnkultur. Sitnikov skizziert solche Raumsituationen in Grundrissen, die eine gewisse Kälte ausstrahlen, und setzt ihnen Medaillons mit einem zart angedeuteten Mädchenkopf kontrapunktisch entgegen.

    Mit seiner Thematik solcher Ambivalenzen ist Vladimir Sitnikov hier am rechten Ort. Aus einer Kriegsarchitektur aus diktatorischer Machtfülle ist im Bunker-D ein Ort der Kunst entstanden. Auf seinem Dach ist, vergleichbar Sitnikovs Invasoren auf der Berliner Museumsinsel, das Objekt Kubusbalance von HD Schrader gelandet, auf dem Campus die Straßenboje von K-L Schmaltz. Und ähnlich wie Aleksandr Bloks Die Zwölf in der Umsetzung von Sitnikov haben sich die zwölf Granitkugeln von Ludger Gerdes versammelt.

    Vladimir Sitnikovs künstlerische Konstrukte, die Berliner Veduten mit der Umformulierung der Schlüterschen „Trophäen“-Köpfe, die Wohnmaschinen – sie alle zeugen von seiner Beschäftigung mit divergenten menschlichen Gepflogenheiten, Bedürfnissen und Konflikten und die seltsame Verbindung von Macht und Ästhetik. Letztlich geben seine Arbeiten Anregungen zu einem Diskurs über Humanität.

 

Peter Thurmann