Fluchtpunkte 


 

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Aus der Serie "Fluchtpunkte", 2012, Öl auf Leinwand

 

Einführung: Ulrich Kuder

Vladimir Sitnikov: Fluchtpunkte (Museum Eckernförde; 3.2.2013)


Über Kunst kann man viel erzählen, oft ist aber auch das Gegenteil von dem richtig, was man darüber sagt. Stellt man, zum Beispiel, fest, hier sei ein Innenraum dargestellt, so muss man sich unmittelbar korrigieren, denn nicht ein Innenraum wird hier auf der Leinwand vergegenwärtigt, allenfalls das Bild eines Innenraums. Der Kreis, die Kugel oder auch das Loch in der Mitte kann ja kein integraler Bestandteil des dargestellten Raumes sein, wohl aber könnte dieses Element zum Bild eines solchen Raumes gehören, das durch diesen Punkt, der Raumillusion entgegen, anzeigt, dass es ein Bild ist, eine bemalte Leinwand nämlich, die überpinselt oder durchlöchert werden kann. Versteht man aber den runden Fleck oder den Kreis ausschließlich als Irritation, oder gar als Zerstörung des Bildzusammenhangs durch Übermalung, dann sieht man sich dem Einwand konfrontiert: Nein! Er gehört zum Bild, er ist ja aus derselben Farbmaterie wie das ganze Gemälde, dem er eine für die Farbkomposition unverzichtbare Nuance hinzufügt.

 

In seinem Kern besteht dieser Kreis aus gemischten Farbtönen, etwa einem hellgrauen, in Mauve übergehenden Rosa. Der Titel dieser Ausstellung ‚Fluchtpunkte‘, doppeldeutig, ‚Fluchtpunkt‘ nämlich im Sinn einer zentralperspektivischen Darstellung als der Punkt, in dem die in die Tiefe des Bildraums laufenden Linien sich treffen – der Punkt also, der in der dargestellten Wirklichkeit im Unendlichen liegt –, ‚Fluchtpunkt‘ aber zum anderen als der Punkt, der auf einer Flucht angestrebt und erreicht wird, der Titel ‚Fluchtpunkte‘ meint in beiderlei Bedeutung ein Positives, keine aggressive Markierung des Bildes, so sehr auf manchen Bildern dieser Ausstellung eine Spannung entsteht zwischen dem idyllischen Motiv, einem Park oder Wäldchen, einer offenen Landschaft, freier Natur einerseits und dem Punkt oder Kreis oder der Kugel, dieser idealen Form, die der dargestellten Wirklichkeit wie eine Intarsie als etwas ganz Anderes eingesetzt erscheint.

 

Doch auch diese Aussage, die Kreise seien wie eine Einlegearbeit eingesetzt, muss, wie gesagt, korrigiert, zumindest eingeschränkt werden. Denn sie hält der Beobachtung nicht stand, dass jene Kreise als gemalte jeweils durchaus in Beziehung stehen zum Bildganzen. Sie können als rotierende Scheiben verstanden werden, auf der die Farben des Bildes aufgetragen sind, die durch die, auch vom Lichtreflex betonte, schnell kreisende Bewegung zu einem einzigen, immer heller werdenden Farbton zusammenfließen. Ein solcher Punkt ist, so gesehen, wie das Auge im Zentrum eines Orkans, ein Ort der Ruhe inmitten des Wirbels der Wirklichkeit. Er scheint zugleich der Fluchtpunkt im Sinne der Zentralperspektive zu sein, der Punkt, in dem die Linien zusammenlaufen. Aber auch hier: Einspruch! Denn der Kreis mit seinem Punkt in der Mitte ist auch ein Auge, das aus dem Bild heraus den Betrachter anblickt, das unseren Blick bannt, so dass die Aktivität zwischen Bild und Betrachter eine gegenseitige wird. Nicht nur flieht der Betrachter ins Bild hinein auf den Fluchtpunkt, das Bild kommt auch auf ihn zu. Außerdem liegt, jedenfalls in diesem Bild – übrigens einem Bild ohne Titel - der gemalte Punkt, leicht nach rechts verschoben, haarscharf neben dem zentralperspektivischen Fluchtpunkt. Durch diese Abweichung wird die strenge Achsensymmetrie gelockert, die Architektur verliert ihre Starre, die Scheibe wird zum Zentrum einer Bewegung. Vom Inneren des Bildes aus sorgt dieser Punkt, die gemalte Scheibe dafür, dass die Motive nicht nur dargestellt, sondern auch verändert werden. Dass die mächtigen, den Kosmos beherrschenden Löwen eine Metamorphose durchmachen und der eine von ihnen bereits zu einem freundlichen Hund mutiert ist, dessen Pfote nicht mehr den Globus schützt, sondern mit einer Kugel spielt, ist wohl jener rotierenden Scheibe zu verdanken. Und die Gemälde an den Wänden, Exponenten der Weltkunst, sind entleert. Manche werden von einem blitzartigen Splitter durchzuckt.

 

Bildlich repräsentiert ist hier ja nicht ein Bild irgendeines Museums, sondern eines des Prado, jener Gemäldegalerie, von der der Kunsthistoriker Theodor Hetzer sagte, nur wer im Prado war, kann wissen, was Malerei vermag. Hier hängen sie, in klassischer Museumshängung, die Unterkanten aller Bilder auf derselben Höhe, die Gemälde Tizians, die von Velázquez, Dürer, Raffael, Goya, Hieronymus Bosch, Rubens, Rembrandt, Veronese, Holbein, Claude Lorrain, Poussin und vielen anderen mehr. Bei Vladimir Sitnikov scheinen die Figuren dieser Bilder herabgestiegen zu sein aus ihrer Höhe und sich, zu neuer Lebendigkeit befreit, unters Publikum der Museumsbesucher gemischt zu haben. Vorneweg rechts führt ein Nackter den Reigen an, mit in Schulterhöhe verschränkten Armen wie einer der Sklaven Michelangelos oder eine Aktfigur aus El Grecos Laokoonbild. Die königliche Gemäldegalerie des Prado, unter Kennern die führende der Weltrangliste, in ihrem Kernbestand zusammengetragen unter einem Herrscher, in dessen Reich die Sonne nicht unterging, gewinnt in Sitnikovs Bild eine neue Bescheidenheit und einen neuen Zauber, indem sie sich konzentriert auf ihre Mitte und auf ihre Essenz, auf Farbe und Licht, und in dieser unmerklichen, sanften Verwandlung zu einer utopischen Bilderlosigkeit die Thematik von Tod und Auferstehung streift.

 

Die überbordende barocke Formenfülle, der Sie nachher, besonders im ersten Ausstellungsraum, konfrontiert sein werden, wird in Sitnikovs Gemälden nicht gewaltsam in ihre Schranken gewiesen, wohl aber relativiert. Ihre raumgreifende Dynamik erfährt keinen Widerstand durch einen entsprechend pathetischen Gestus, sondern, denkbar schlicht, durch die bloße Setzung der kreisrunden Punkte. Keine noch so pralle Figur wird dabei zerschmettert, sie bleibt vielmehr erhalten, bekommt aber durch die Kreis- oder auch Kugelformen den Stempel, der ausspricht, was sie sind: Bilder von Figuren, nur Bilder aus Farbe und Licht. Zugleich sind diese kreisenden Siegel ein Durchbruch und Vorschein einer anderen, ungegenständlichen und bilderlosen Welt und somit ein Fluchtpunkt, der die Möglichkeit des Entrinnens anzeigt, ein Punkt, auf dem es sich wie auf einer Kugel heraus fliegen lässt aus der „zweckgebundenen, praktisch-räumlichen Welt der Nützlichkeiten“ (das war Zitat Kasimir Malewitsch), Abhängigkeiten und zugleich aus der dargestellten Kunstwelt der Engel des schönen Scheins, die mit dem Flammenschwert den bösen Drachen besiegen, der verführerischen Nixen, der edlen Hunde, der weltberühmten Kunstmuseen, des schattigen grünen Waldes.

 

Wenn Sie in den ersten Ausstellungsraum kommen, so finden Sie gleich links neben der Tür ein Gemälde, ohne Titel. Erkennbar sind zwei Nixen mit nacktem Oberkörper. In vielfacher Weise spielen ihre Formen, die Locken ihres Haars, ihre Brüste, die Fischschwänze auf die kreisrunde Scheibe mit ihrem dunklen Punkt in der Mitte an, die sich wie eine Schallplatte zwischen ihnen zu drehen scheint. Sie selbst fassen sich an der Hand, bilden einen Reigen, drehen sich wie der Diskus zwischen ihnen. Die eine Nixe, deren verlorenes Profil ins helle Licht gerückt und deren Blick nach oben gerichtet ist, erscheint vor grünem, die andere, gesenkten Blicks, vor rotbraunem Hintergrund. Auf den ersten Blick meint man, die Scheibe nehme genau die Mitte des Bildes ein, sie ist aber dem Bildmittelpunkt gegenüber nach links und nach oben versetzt. Dadurch wird dem Bild ein Schub gegeben, der Reigen der beiden Nixen dreht sich spiralig nach oben. Der so ins Bild integrierte Fluchtpunkt-Kreis nimmt auf die beiden Nixen Rücksicht, zwischen denen er platziert ist, setzt sich aber auch gegen sie durch. Denn die gegenstandslose Form des Kreises überschneidet auf diesem und auf anderen Bildern Sitnikovs stets die figürlichen Motive, unabhängig davon, ob es sich um Nixen, Häuser, Bäume, Reiter oder kleine kampfbereite Putti mit Schild und Flammenschwert handelt. Nur der Hund, auf einem anderen Bild ohne Titel, der von alledem nichts versteht, tapst unbesorgt über den Kreis hinweg. Er braucht keinen Fluchtpunkt.

 

Vladimir Sitnikov befreit die barocken Figuren von ihrer Scheinhaftigkeit, indem er, mit den einfachsten Mitteln, ihre Theatralik und zugleich das Wesen ihrer Bewegung offen legt. Die Nixen tanzen, trotz oder gerade mit der Scheibe, immer noch gemeinsam, aber nicht mehr um eine Fontäne oder ein Blumenbukett, das nicht mehr als solches identifiziert werden kann, sondern um die ideale Form eines Kreises.

 

Der Reiter auf dem Bild ihnen gegenüber will hoch hinaus, so hoch, dass sein Kopf, der über den Bildrahmen hinausragen würde, mit großer Selbstverständlichkeit von diesem abgeschnitten wird. Auch die in Sitnikovs Oeuvre zahlreichen Schützen mit ihren Pistolen und Gewehren werden weder heroisiet noch angeprangert, wohl aber wird ihr Habitus, ihre Lebenshaltung, zwischen Bestimmtheit und Zögern, freigelegt. Die meisten dieser Bilder sind ohne Titel, eines aber, auf dem ein Scharfschütze in Lederstiefeln, Soldatenmütze und mit hochgehaltener Pistole zu sehen ist, heißt: ‚Und wie geht es weiter?‘ Eine Frage, die sich in dieser Situation, kurz vor dem Schuss, nicht unbedingt aufdrängt. Man weiß doch oder meint zu wissen, wie es weitergeht. Indem diese Frage, scheinbar leicht zu beantworten und insofern überflüssig, dennoch gestellt wird, erweist sie sich als eine der schwierigsten unter denen, die unbeantwortet bleiben. Die Frage fasst in Worte, was das Bild ist: eine Unterbrechung der Aktion, ein Augenblick des Innehaltens, der Nachdenklichkeit über die Vielfalt der Möglichkeiten, die der junge Mann, der Pistolenschütze haben könnte.

 

Die Bilder dieser Ausstellung zeigen nur einen kleinen Ausschnitt des umfangreichen Werks von Vladimir Sitnikov. Seine Künstlerbücher, Zeichnungen, Aquarelle, Illustrationen, seine dreidimensionalen Arbeiten in verschiedenem Material, Holz, Karton, Plexiglas könnten leicht ein ganzes Museum füllen. Zur Ausstellung sind zwei Kataloge erhältlich, die einen Einblick in dieses reiche Schaffen geben, außerdem ein Museums-Sammelblatt speziell zu dieser Ausstellung ‚Fluchtpunkte‘. Sitnikovs Arbeiten sind stets auch eine Auseinandersetzung mit der künstlerischen Tradition, aus der er kommt, mit der Moskauer Kunstakademie, und daher sind sie unabdingbar involviert in Grundfragen der Moderne. Seit siebzehn Jahren lebt Vladimir Sitnikov in Schleswig-Holstein und man kann nicht sagen, dass sein Werk, seinem hohen Rang entsprechend, hier durch Ankäufe und Ausstellungen angemessen gewürdigt worden wäre. Es gereicht der Stadt und dem Museum Eckernförde und, nicht zuletzt Ihnen persönlich, Herr Dr. Beitz, zur Ehre, für diese erste Einzelausstellung Vladimir Sitnikovs in einem kommunalen Museum Schleswig-Holsteins Sorge getragen zu haben.

 

Manches an seinen Bildern erschließt sich erst beim zweiten oder dritten Hinsehen. Daher mein Rat: Sehen Sie nachher die Bilder an und, wenn möglich, kommen Sie wieder. Die Details sind wichtig. Wenn mit den ‚Fluchtpunkten auch ‚Zielpunkte‘ gemeint sind, Punkte, auf die die Kunst abzielt, so liegen diese Punkte nicht an der Oberfläche und sie fallen einem in der Regel nicht sogleich ins Auge. Wodurch bannt, zum Beispiel, das Bild ‚Die geheimnisvolle Person‘ unseren Blick? Je länger man es betrachtet, desto mehr entdeckt man darin, und ebendies, dass es von Anfang an den Eindruck vermittelt, es verberge sich etwas in ihm, macht sein Faszinosum aus. Der Kopf dieser dunklen Person wird vom oberen Bildrand abgeschnitten, doch zeichnet sich ihr hellerer Schatten, in dem wir wieder einen hellgrauen und doch farbigen Mischton wahrnehmen, auf dem Boden ab. Nur als Schatten ist diese Person vollständig zu sehen, nur das Schattenbild lässt den Spitzbart erkennen und die Bändel, die von seinem Rücken wegflattern und die vielleicht in einen Mozartzopf geflochten sind. Was drückt er mit seiner Gebärde aus? Will er jemanden begrüßen? Oder weicht er erschreckt zurück? Links und rechts von ihm erscheinen grüne Schatten auf dem Boden. Können es die Schatten weiterer geheimnisvoller Personen sein? Wohl gar Personen mit Stöcken in den Händen? Oder mit Zeptern? Die steinerne Balustrade aus dem Dixhuitième lässt an eine noble festliche Umgebung, eine herrschaftliche Parkanlage denken. Haben wir uns die Szene als die einer revolutionären Verschwörung zu ergänzen?

 

Das Bild, das im hinteren, zweiten Ausstellungsraum daneben hängt, ‚Die Musikstunde‘, hat einen gemalten Rahmen, dessen Ecken weich abgerundet sind, so dass es sich ausnimmt wie der vergrößerte Bildschirm eines Fernsehgeräts älterer Bauart oder wie ein Bild im Rückspiegel eines Autos. Gewiss bleibt das Bild stumm und doch bekommen wir durch die aufrechte, doch nicht steife Haltung des Geigers mit seinem Instrument eine Vorstellung von der Musik, die hier erklingt, aller Äußerlichkeit der Inszenierung und des Machens enthoben. Der Musikant braucht nicht einmal einen Geigenbogen. Der nach oben schwebende Kreis, den wir schon auf anderen Bildern dieser Ausstellung gesehen haben, wird hier als schwebender roter Luftballon auf den Punkt gebracht, ein voller Ton. Entscheidend aber ist die leicht erhobene Hand des am Straßen- oder Waldesrand sitzenden Zuhörers, der so den Klang mitvollzieht. In solchen im Bild eines Bildes reflektierten Momenten erfüllter Gegenwart wird die Frage ‚Und wie geht es weiter?‘ in der Tat überflüssig.

 

Ulrich Kuder